Oceans+Ghosts: Jenny Schäfer, 2020
Ausstellungstext: Anne Döring
Durch Jenny Schäfers Sammlungen zu schweifen, ist so entspannend wie beunruhigend.
Selbstverständliches wird zum Problem und Unmögliches präsentiert sich als Realisation im Kinderspiel. Von der Lollipopsonne am Konsolenhorizont, über die Postkartenkorrespondenz mit dem geflügelten Echsenfreund oder Ponies mit schillernden Plastikmähnen bis zur Meerjungfrau frisch aus dem Mattel-Karton entpackt, wird jeweils das Phantastische handgreiflich. Dieses Hosentaschenformat der Anderswelt, diese fast lakonisch-banale Habhaftigkeit des Unmöglichen ist es vielleicht, die eine leichte Unruhe bei der Betrachter*in auslöst.
Walter Benjamin schrieb einmal, er schaffe vom Sürrealisten Louis Aragon nur eine Seite pro Abend, dann müsse er wegen des stärkeren Herzklopfens aufhören zu lesen. Diese Rezeptions-Symptomatik lässt sich vergleichen und der Erreger in gewisser Hinsicht auch: Denn Jenny Schäfers Objekte verhalten sich – und das ist ihr sürrealistischer Akzent – avers gegenüber allen Vorurteilen wie vorschneller Klassifikation in gewohnten Registern des Denkens. Ihre Ordnungen drohen nicht mit Ausschluss oder Disziplinierung. Sie bilden eine Sammlung, die nicht mortifiziert oder fixiert, sondern im Zeichen der Dynamisierung steht. Nicht nur, indem sie die Betrachterin in innere Bewegung versetzt und eine Erfahrung ermöglicht, sondern auch insofern sie einen Zusammenhang zwischen Dingen stiftet, der vorher nicht da war. Die konstellierenden Verfahren Jenny Schäfers ermöglichen es, scharfe Grenzziehungen zwischen Dingen aber auch zwischen Dingen und Betrachterinnen infrage zu stellen, den Prozess wechselseitiger Konstituierung in den Blick zu nehmen und die darin auftretende Spannung nicht etwa aufzuheben, sondern als wesentlich zu thematisieren und zu exponieren. Die Ordnung als (kultureller) Schaffensakt und die Unordnung als die (natürliche) Regel werden ineinander gekippt und befragt.
Die fotografisch anmutenden Arbeiten lassen die selbstverständliche Trennung von Himmel und Erde, Ozean und Luft ineinander übergehen und geben dabei die Sicherheit und Orientierung frei, die diese ununterbrochene Linie, der Horizont dem Auge und dem Denken üblicherweise stiftet. Übergang statt Differenz. Ebenso unproblematisch ist aus Sicht dieser Bilder, das Leuchten einer rosafarbene Muschel (vielleicht handelt es sich dabei auch auch um eine dieser Polly Pocket-Schatullen aus den 90er Jahren) über dem Meer, das die Sonnenuntergangsromantik erzeugt. Hier kann das Sehen neu gelernt werden.
Dass zwischen schaffender und erschaffener Natur nicht (mehr) zu trennen ist, begegnet im gegenwärtigen Diskurs zwar als Allgemeinplatz, lässt sich begrifflichen Denken jedoch umso schwieriger greifen. Unter einer Wandkonsole schwimmt ein gesichtsloser Taucher. Über ihm, die Konsole kann ein Strand Horizont aber auch ein Strand sein, liegen aus Modelliermasse für Kinderbasteleien geformte Ammoniten-Muscheln und erscheinen als eine sinnlich-ästhetische Wissensformation. „In Muscheln phantasiert die Natur auf gelehrte Weise“, schreibt Gaston Bachelard und fügt mit Paul Valéry hinzu: „Sie sind für uns bevorzugte Objekte, dem Blick verständlicher, wenn auch für das Denken geheimnisvoller als alle anderen, die wir undeutlich sehen.“ Jenny Schäfers Muschel, Jenny Schäfers Kunst dreht das ein wenig, sie ist dem Blick geheimnisvoller und verdeutlicht dabei etwas. Ganz einfach. Eine herrlich ruhige Unruhe.
Literatur:
Gaston Bachelard (1957): Poetik des Raumes.
Walter Benjamin (1929): Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz.
Christine Blättler, Ulrike Vedder (2016): Dynamik und Ordnung der Sammlung.
Paul Valéry (1947): Der Mensch und die Muschel.